2. „Geschichten in Computerspielen!“

Iwata:

Als die Computerspiele noch in den Kinderschuhen steckten, hatten sie keine großartige Handlung aufzuweisen. Aber als die Spiele sich weiterentwickelten, haben sowohl Mr. Sakaguchi als auch Mr. Sakamoto in ihren jeweiligen Funktionen eine eher „Geschichten erzählende“ Richtung eingeschlagen. Was hat Sie zuerst veranlasst, einen Schritt in Richtung des „Geschichtenerzählens“ zu machen, Mr. Sakaguchi?

Sakaguchi:

Der Auslöser für mich war der Apple II5, auf dem ich in meinen Studententagen gespielt habe. Damals habe ich alle Arten von Abenteuerspielen gespielt und irgendwann ging mir ganz plötzlich auf: „In den Computerspielen stecken Geschichten!“ 5 Der Apple II ist ein PC, der 1977 von Apple Computer (wie das Unternehmen damals hieß) herausgebracht wurde.

Iwata:

Wenn Sie an Computerspiele aus dieser Zeit denken, fällt auf, dass es sich fast ausschließlich um Spiele handelt, bei denen Blöcke zerstört werden müssen, oder um simple Shooter-Spiele. Und dabei kam Ihnen der Gedanke, dass sich Geschichten in Computerspielen verbergen ...?

Sakaguchi:

Es war ein Kulturschock ... eigentlich sogar ein doppelter Kulturschock, da diese Spiele ja aus einer westlichen Kultur kamen, nämlich in Amerika hergestellt wurden. Danach habe ich viele Spiele mit meinem Computer gemacht, allesamt Abenteuerspiele. Und von da an hatte ich den unbezwingbaren Wunsch, Spiele mit einer Geschichte zu erschaffen. Es war gar nicht so, dass ich das unbedingt professionell machen wollte – so etwas war damals ja sowieso nicht möglich.

Iwata:

Damals konnte man nicht einfach Sachen ins Internet stellen oder so etwas. Aber Spiele erschienen Ihnen also das perfekte Medium zum Erzählen Ihrer Geschichten, Mr. Sakaguchi?

Sakaguchi:

Ja, sie eigneten sich perfekt, und ich hatte ja die Möglichkeit, sie selbst zu erstellen.

Iwata:

Ihr Studenten-Hobby führte also ganz natürlich zu Ihrer Beschäftigung mit Spielen, die Geschichten erzählen?

Sakaguchi:

Genau. Es war sozusagen die Fortsetzung des Spielens.

Iwata:

Ihr Hobby entwickelte sich, und was Sie jetzt tun, ist nur eine Fortsetzung davon ...

Sakaguchi:

Ja. Es gab damals ja nicht mal ein Wort für „Spieledesigner“.

Iwata:

Auch ich habe meine Videospielkarriere begonnen, indem ich eher zufällig in einen Teilzeitjob gestolpert bin. Am Anfang war es wirklich so eine Art Fortsetzung des Spielens. Wie das bei Ihnen Mr. Sakamoto? Was hat Ihr Interesse für Geschichten erzählende Spiele geweckt?

Sakamoto:

Meine erste Erfahrung mit textbasierten Abenteuerspielen war Portopia Renzoku Satsujin Jiken6 auf NES. 6 Portopia Renzoku Satsujin Jiken („Der Fall des Serienmörders vom Hafenkai“) ist ein Abenteuerspiel, das von Enix (wie das Unternehmen damals hieß) veröffentlicht wurde. Die PC-Version kam 1983 in Japan heraus, die NES-Version im November 1985.

Iwata:

Das war Mr. (Yuji) Horiis7 erstes Abenteuerspiel, nicht wahr? 7 Yuji Horii ist ein Spieledesigner, der für die Entwicklung der Dragon Quest-Serie und anderer Titel verantwortlich war.

Sakamoto:

Ja. Als ich das Spiel spielte, reagierte ich genauso, wie Mr. Sakaguchi schon sagte – ich dachte: „Spiele können so viele und unglaubliche Dinge ...“ Ich fand die interaktiven Teile richtig super – wo man einen Befehl auswählte, um eine Reaktion zu erhalten – und es gab andere Teile, die mir das Gefühl gaben, dass meine Emotionen wirklich irgendwie gesteuert wurden. Und da keimte im mir der Wunsch, selbst ein derartiges Spiel zu kreieren. Ungefähr zu dieser Zeit, bevor wir Tokimeki High School machten, kam Mr. Gunpei Yokoi8, mein damaliger Vorgesetzter, zu mir und sagte: „Wir müssen ein Spiel mit dem Titel Famicom Shonen Tanteidan (Family Computer – Jugenddetektivgruppe) entwickeln.“ Gemeinsam mit einem anderen Unternehmen begann ich also mit diesem Projekt. 8 Während seiner Zeit bei Nintendo arbeitete der verstorbene Gunpei Yokoi an der Entwicklung von Spielekonsolen wie der „Game and Watch“-Serie und dem Game Boy. Er war auch an der Entwicklung des R.O.B. und Dr. Mario beteiligt.

Iwata Asks
Iwata:

Der Titel war der Ausgangspunkt für ein Projekt ... Das ist ja wirklich alte Schule! (lacht) Das resultierende Spiel war Famicom Tantei Club9, nicht wahr? 9 Famicom Tantei Club („Famicom Detektivklub“) ist eine Serie von Abenteuerspielen, die auf dem Family Computer Disk System und anderen Konsolen veröffentlicht wurde. Das erste Spiel der Serie war Famicom Tantei Club: Kieta Kokeisha („Der verschwundene Erbe“), das 1988 in Japan erschien. Das zweite Spiel der Serie, Ushiro ni Tatsu Shojo („Das Mädchen dahinter“), wurde 1989 in Japan veröffentlicht.

Sakamoto:

Ja, genau. Ich war an textbasierten Abenteuerspielen interessiert; als ich mit der Arbeit an dem Projekt begann, war ich also wirklich enthusiastisch. Zuerst lief es allerdings nicht so toll, da das Unternehmen, mit dem wir zusammenarbeiteten, zunächst nicht vorhatte, etwas zu produzieren, das sich auf die Entwicklung einer Handlung und Geschichte konzentrierte. Ich fand aber, dass wir besser etwas wie Portopia Renzoku Satsujin Jiken machen sollten, etwas mit einer straffen Handlung, die die Spieler überraschen und durch zahlreichen Höhe- und Tiefpunkte, durch Freud und Leid führen würde. Daher bin ich zu meinem damaligen Vorgesetzten gegangen und fragte, ob ich das Szenario für dieses Spiel schreiben dürfe.

Iwata:

Hatten Sie denn Erfahrung mit dem Schreiben von Szenarios, Mr. Sakamoto?

Sakamoto:

Nein, überhaupt nicht. Aber das Unternehmen, mit dem ich arbeitete, hatte ein Grundkonzept vorgeschlagen, etwas wie „Junge ohne Gedächtnis ist in Wahrheit ...“ Und ich dachte, dass ich ausgehend von diesem Thema vielleicht eine Art Geschichte fabrizieren könnte.

Iwata:

War es nicht ein wenig waghalsig für jemanden, der ja eigentlich ein absoluter Neuling war, plötzlich zu versuchen, dieses vage Konzept in ein Szenario zu verwandeln?

Sakamoto:

Das war ganz bestimmt waghalsig. (lacht) Aber ich hatte schon immer eine waghalsige Seite, also dachte ich, dass ich das schon irgendwie hinkriegen würde – auch wenn es keinerlei Grundlage dafür gab.

Iwata:

Das haben Leute unserer Generation vielleicht gemeinsam. Da wir nun einmal durch reines Glück die Pioniere in der Welt der Videospiele waren und gelegentlich dachten: „Wäre es nicht toll, wenn wir ...“, oder einfach gewisse Wagnisse eingingen (immer mit der Überzeugung, dass schon alles gut gehen würde), eröffnete sich uns der Weg nach vorne oft ganz allmählich von selbst. Wir haben das immer wieder erlebt und teilen daher vermutlich diese Mentalität.

Iwata Asks
Sakamoto:

Ja, stimmt. Bei Famicom Tantei Club folgten wir genau diesem Muster, und irgendwie passte immer alles zusammen. Aber natürlich gab es auch andere Projekte, bei denen man Dinge probierte, die dann nicht so toll funktionierten. (lacht)

Iwata:

Sie stießen also allmählich auf Spiele die Geschichten erzählten, Mr. Sakamoto. Sie haben zwei Famicom Tantei Club-Spiele gemacht ...

Sakamoto:

Das nächste auf einer Geschichte basierende Spiel, das ich nach den zwei Famicom Tantei Club-Spielen machte, war Kaeru no Tame ni Kane wa Naru10 für Game Boy. Danach schrieb ich Geschichten für Card Hero11 und Metroid Fusion12. Außerdem habe ich das Szenario für den jüngsten Metroid-Titel, „Metroid: Other M“, geschrieben. 10 Kaeru no Tame ni Kane wa Naru („Dem Frosch schlägt die Stunde“) ist ein Action-RPG für Game Boy, das in Japan im September 1992 erschien.2 Card Hero bezieht sich auf Trade & Battle: Card Hero, ein Kartentauschspiel, das im Februar 2000 für den Game Boy Color in Japan erschien.2 Metroid Fusion ist ein Action-Spiel für den Game Boy Advance, das im Februar 2003 in Japan erschien, in Europa im November 2002. Es ist das vierte Spiel der Serie.

Iwata:

Ah, so hat sich das Ganze also entwickelt. Mr. Sakaguchi, nachdem Sie 1987 das erste Final Fantasy-Spiel gemacht hatten, kam schon im nächsten Jahr das zweite Spiel, FFII13, heraus. Damals konnten Spieler sich also jedes Jahr auf ein neues Final Fantasy-Spiel freuen, nicht wahr? 13 FFII = Final Fantasy II, ein RPG, das im Dezember 1988 in Japan für das NES erschien. Es war das zweite Spiel der Serie. In Europa ist dieses jetzt für Virtual Console auf Wii verfügbar.

Sakaguchi:

Ja, wir hatten es uns damals zum Ziel gesetzt, jedes Jahr ein neues Spiel zu veröffentlichen. Wir nannten diese Spiele manchmal auch „RPGs für das Sitzen am kotatsu (traditioneller japanischer Kamin)“ ...

Iwata:

Ah. Wenn also die Jahreszeit kam, an der man sich an den kotatsu setzt, sollten die Spieler sich mit Final Fantasy beschäftigen, war das die Absicht?

Sakaguchi:

Genau. Obwohl uns das nur bis FFII gelang, wollten wir die Veröffentlichungen gerne zum Jahresende hin vornehmen.

Iwata Asks
Sakamoto:

Ich kann mich daran erinnern, dass ich damals davon gehört habe. Die geplante Veröffentlichung von Dragon Quest III14 am Jahresende verzögerte sich und Mr. Sakaguchi sagte dann: „Aber dann gibt es dieses Jahr kein "Spiel für das Sitzen am kotatsu"!“ 14 Dragon Quest III Soshite Densentsu e... ist ein RPG, das im Februar 1988 in Japan für das NES veröffentlicht wurde. Neuauflagen erschienen in Japan auch für das SNES und den Game Boy Color.

Sakaguchi:

Stimmt, das habe ich damals gesagt. Ich fand, es hätte ein „Spiel für das Sitzen am kotatsu“ geben sollen. Die Verzögerung von Dragon Quest III hatte quasi eine Lücke gelassen und ich wollte in die Bresche springen. Das war eine recht große Lücke, die ich da zu füllen hatte! (lacht)

Iwata:

Und seit damals achten Sie beim Erstellen eines Spiels immer auf alle derartigen Details, nicht wahr, Mr. Sakaguchi?

Sakaguchi:

Ja. Mr. Sakamoto erwähnte ja bereits, dass auch er ein völliger Anfänger war, als er sich zum ersten Mal am Schreiben von Szenarios versuchte – ich glaube, damals ging irgendwie einfach alles. Man konnte nicht nur Spiele machen, sondern auch das Management, die Werbung usw. übernehmen. Es war eine Zeit, wo man einfach alles einmal ausprobierte, das gerade anfiel. Egal, was die Vor- oder Nachteile dieser Zeit waren – es war dieses kreative Chaos, aus dem Spiele entstanden.

Iwata:

Es stimmt, dass viele Aufgaben heutzutage strikt aufgeteilt werden. Aber ich finde, die Arbeit an Produkten, an denen man beteiligt ist, ist nur dann wirklich abgeschlossen, wenn man auch über Fragen nachgedacht hat, wie: „Wie kann ich dem Spieler die in unseren Produkten enthaltenen Botschaften vermitteln?“ oder: „Wie gestalte ich das Produkt so, dass es den Verbrauchern wirklich Spaß macht?“

Sakamoto:

Ja, das war damals eine Zeit, in der wir für uns selbst dachten und das Gefühl hatten, dass nichts unmöglich war.